Alles bleibt anders: Für etwas leiden, an dem wir grundlos hängen

Von Dr. Nora Brede

Wir sind Individualisten und haben unseren persönlichen Geschmack – auch was unsere Hunde und Hunderassen anbelangt. Doch wie weit dürfen unsere persönlichen Vorlieben für Rassemerkmale gehen? Haben wir bereits alle Grenzen in der Hundezucht überschritten, und zahlen unsere Hunde einen hohen Preis dafür, dass wir unsere absurden Vorstellungen erfüllen können? Die Evolutionsbiologin Dr. Nora Brede ist der Meinung, dass wir sämtliche Grenzen schon längst überschritten haben und es nach wie vor tun. Und zwar nicht nur Hundezüchter, auch Käufer solcher krankgezüchteten Welpen.

Vor einigen Wochen meldete sich wutentbrannt eine Freundin, die als Fachexpertin bei einem Veterinäramt arbeitet. Wochenlang hatte sie sich bemüht, einer Zuchtstätte die Weiterzucht zu untersagen, denn alle verwendeten Tiere der Rasse Englische Bulldogge sind massiv vom brachyzephalen obstruktiven Atemwegssyndrom betroffen und nicht ein Welpe erblickt das Licht der Welt ohne Kaiserschnitt, einem immer wieder schweren Eingriff für das Muttertier, das unter Narkose aufgeschnitten und nach Entnahme der deformierten Welpen wieder zusammengenäht werden muss. Eine leitende Tierärztin einer veterinärmedizinischen Klinik sollte den Zustand der Tiere begutachten und kam zu folgendem Schluss: »Wenn die Hunde ausreichend operiert würden, dann würde einer Zucht nichts im Wege stehen, denn dann wären die Tiere dafür gesund genug«. Die Begründung entbehrt jeder Logik, denn operative Veränderungen werden nicht vererbt – alle Qualzuchtmerkmale werden an die nächste Generation weitergegeben. Zwischen den Zeilen des Gutachtens stand: »Wenn ich in diesem Gutachten etwas anderes schreibe, kann niemand mehr Englische Bulldoggen züchten – und das traue ich mich nicht.«

Wenn man sich mit dem Thema Qualzuchten befasst, stellt man schnell fest, dass es sehr komplex ist, weil verschiedene Ebenen unserer Gesellschaft darin eine Rolle spielen. Wissenschaftlich betrachtet ist die Faktenlage klar: Veterinärmedizinische, verhaltensbiologische und molekulargenetische Studien zeigen, welches Leid durch vererbbare Deformationen und Defekte entsteht. Fehlende Oberkiefer, verformte Schädel und Beine, funktionslose Ohrmuscheln, ein massiver Hautüberschuss, Farb- und Felldefekte sind nur die offensichtlicheren unter den vererbbaren Schäden, die wir als Rassemerkmale ansehen. Das ist sicher Teil des Problems.

Alles bleibt anders
Warum gibt es diese Hunderassen noch, wo doch offensichtlich ist, dass es keine harmlosen Alleinstellungsmerkmale einer Rasse sind, sondern die Gesundheit und das Wohlsein beeinträchtigende Schäden, die Hunden Leid bringen? So sehr wir Menschen an Dingen festhalten, die wir als historisch wertvoll ansehen, so sehr wir Konstanz mit Tradition gleichsetzen – so sehr sind wir in vielen Fällen auch ganz hervorragend darin, Unpraktisches und Schadhaftes durch bessere Alternativen zu ersetzen. Ein Kind von heute können die Älteren unter uns schmunzelnd dabei beobachten, wie es sich interessiert, aber erfolglos an einem Wählscheibentelefon probiert. Tasten haben sich durchgesetzt, weil sie viel praktischer sind. Wir haben aufgehört, die radioaktive Zahnpasta Doramad zu verwenden, die unsere Zähne so blendend weiß machen sollte, als sich herausstellte, dass Radioaktivität der Gesundheit nicht wirklich zuträglich ist. Von der Höhle zum Haus, vom offenen Feuer zur Mikrowelle, vom Pferd zum Auto. Wir Menschen haben erkannt, was an Notwendigkeiten zu aufwendig oder problematisch war und haben es durch Besserungen ersetzt.

Warum also gibt es immer noch Haustiere – und Tiere mit Qualzuchtmerkmalen gibt es eben nur in unserem Umfeld – die leiden müssen, nur weil wir sie erhalten und vermehren? Sachlich betrachtet ist ein verschwindend geringer Teil der Hunde auf unserem Planeten ein Rassehund – und noch viel weniger tragen Qualzuchtmerkmale. 500 Millionen Hunde gibt es weltweit – in Deutschland sind es allein über 10 Millionen. Etwa 360 Rassen zählt die FCI, aber tatsächlich gibt es weit über 800 Hunderassen, -schläge und -typen. Die FCI als kynologische Organisation ist letztendlich nur ein Teil eines Trends, der Mitte des 19. Jahrhunderts in England begann: Die gezielte Zucht von unterschiedlichen Hunderassen als Hobby und für den Gebrauch. Etwas über 100 Jahre existiert dieser Verband – Hunderassen an sich gibt es aber schon viel länger. Vor allem solche, die für den Menschen praktisch waren und die sich für verschiedene Lebenslagen gebrauchen ließen: Die Jagd, das Hüten von Nutztieren oder das Bewachen von Werten. Und ja, es gibt auch schon sehr lange kleine, handliche Hunde, die zur Belustigung und zum Zeitvertreib gehalten wurden. Oder um es anders zu sagen: Die Auswahl an gesunden Hunden ist ­riesig.

Was es im Unterschied zu heute allerdings in diesem Ausmaß nicht gab, ist eine beeindruckend fortschrittliche Tiermedizin, die Tiere am Leben erhalten konnte, die eigentlich nicht lebensfähig waren oder massiv litten. Der Einfluss natürlicher selektiver Prozesse auf den Hund hat in den letzten Jahrzehnten stetig abgenommen. Der Fortschritt vom Wählscheibentelefon zum Smartphone war praktisch. Der Fortschritt der Tiermedizin natürlich auch – allerdings nicht für die Individuen, die dadurch mit immer prekäreren Gesundheitsproblemen überleben und sich vermehren ließen.

Luxus Qualzucht?
Wir haben Möglichkeiten gefunden, Hunde am Leben zu erhalten, die für das Leben nicht gesund genug sind. Wir haben Organisationen geschaffen, die uns glaubhaft machen, dass diese Hunde erhaltenswert wären und es ist eine Form des Luxus, etwas halten zu können, das nicht nur in der Anschaffung teuer ist – mit all seinen sichtbaren und bekannten »Mängeln« – sondern in das wir in den folgenden Jahren, zeit seines Lebens, eine überproportional große Summe an Geld investieren können, um es so zu erhalten, dass es nicht offensichtlich leidet.
Man kann damit argumentieren, dass es kognitive Dissonanzen gibt, die Menschen den Blick auf das Eindeutige verwehrt. Mit der Rationalisierung, einem psychologischen Abwehrmechanismus, der uns erlaubt, Entscheidungen im Nachgang zu rechtfertigen, erleichtern wir unser Gewissen. Ein häufig angeführtes, scheinbar rationales Argument für Rassen mit Qualzuchtmerkmalen ist, dass ihr Wesen einzigartig und herausragend ist – das mag so sein. Leidende Tiere zurecht zu operieren, um vermeintlich einzigartige Eigenschaften zu erhalten, ist eine Erklärung, die man immer wieder liest. Belastbar ist die Erklärung allerdings nicht. Unter 800 Rassen und 500 Millionen Hunden werden sich mehr als genug Tiere finden lassen, die nicht an ihrer reinen Existenz leiden und dieses Leid auch nicht vererben und dennoch ganz fantastische Hunde sind.

Dabei ist auch irrelevant, wie alt eine Haustierrasse ist – Radioaktivität gibt es länger als Menschen existieren, aber dass sie, ob in Zahnpasta oder anderen Formen, gefährlich und gesundheitsschädlich ist, wissen wir erst, seit ihre Strahlung und die Effekte auf Lebewesen erforscht wurden. Ob Chihuahua, Sphynxkatze oder Ranchu-Goldfisch: Nur weil wir es irgendwann einmal kreiert haben, ist es nicht erhaltenswert. Wenn die Tiere durch Qualzuchtmerkmale leiden und das wurde durch Forschung belegt, dann ist sowohl der »gesunde« Einzelfall nicht der Maßstab als auch die Historie unwichtig – Leid ist Leid. Heute wissen wir das, früher hatten wir weniger Möglichkeiten, dieses Wissen zu erlangen. Das Tier mag sich nicht geändert haben, aber unser Verständnis von biologischen Zusammenhängen hat es sehr wohl.

Wer Hunde liebt, muss einen Schlussstrich ziehen – den Hunden zuliebe
Das erfordert keinen Mut, denn es kommt kein Tier zu Schaden. Es geht nicht darum, existierende Leben zu beenden, es geht darum, kein weiteres Leid zu erschaffen. Es ist also nicht radikal zu fordern, dass dafür bereits bestehende Gesetze umgesetzt werden und sich Zuchtverbände und kynologische Organisationen wie die FCI danach richten. Das Tierschutzgesetz legt das Minimum fest, nicht ein unerreichbares Maximum. Nun kann man natürlich Absolutheiten sehr einfach skandieren, wenn man einen Text schreibt. Ich möchte deswegen versuchen, darüber hinaus auch konstruktive Vorschläge zu machen – teils erfordern sie Einigkeit in der Sache, teils die Motivation Einzelner:

– Hunderassen (und andere Haustierarten), die auf Qualzuchtmerkmalen basieren, müssen ihre Anerkennung verlieren, und es muss transparent und evidenzbasiert über die Gründe aufgeklärt werden. Damit sind Vorschläge von fachkundigen Personen verbunden, die andere, gesunde Rassen vorstellen, die entsprechende Wesenszüge tragen oder andere, erwünschte Merkmale ohne Qualzucht-Eigenschaften. Zuchtschauen und andere Veranstaltungen, die ein Publikum haben, lassen Hunderassen mit Qualzuchtmerkmalen nicht mehr zu. Zuchtstätten stellen die Vermehrung dieser Rassen ein. Sie richten sich auf andere Hunderassen aus, die die gefälligen Eigenschaften aufweisen, ohne das mit erblichem Tierleid zu verbinden.

– Die Tierärzteschaft, Hundeschulen und allen anderen Menschen, die in einem beratenden Kontext beruflich mit Hunden zu tun haben, obliegt die Verantwortung, zu informieren und aufzuklären. Für eine solche Beratung gibt es inzwischen hilfreiche Leitlinien (https://kynologisch.net/qualzucht-beratung2) und es gibt Broschüren. Es wäre sinnvoll, neben den auf Schock und Empörung setzenden Plakaten und Informationsmaterialien noch Varianten zu kreieren, die bei Selbstständigen und Kleinunternehmen nicht die Sorge über den Verlust abgeschreckter Kundschaft nährt.

– Publizierende und Verlage müssen neue, fachlich fundierte, von der FCI losgelöste Rasseliteratur anbieten und einerseits die Vielfalt der Hunde darstellen und ganz transparent auch über Problematiken aufklären. Je mehr Optionen bei der Auswahl Interessierte haben, desto eher können sie sich für gesunde Hunde entscheiden. Ob es um Rassebücher geht, einzelne Rasseporträts in Buch- oder Artikelform – jede dieser Veröffentlichungen wirkt heute mit ihren oft unkritischen und beschönigenden Inhalten werbend. Schreibende müssen mehr Verantwortung übernehmen und auch die biologische und veterinärmedizinische Fachliteratur aufarbeiten, um dieses Wissen bereitzustellen. Engagierte Fachpersonen müssen sich Wikipedia annehmen und sachlich und mit Verweis auf Studien die relevanten Informationen dieser weltweit genutzten Plattform hürdenfrei zugänglich machen. Das gilt natürlich auch für andere große Plattformen und Internetseiten.

– Gesetzgebende, ausführende Organe wie Veterinärämter und Fachpersonen aus der Tierärzteschaft, den biologischen Disziplinen und den Hundeberufen müssen zusammenarbeiten und geschlossen umsetzen, was für das Tier notwendig ist: Importverbote, Zuchtverbote, Ausstellungsverbote – auch mithilfe der Erstellung fundierter Gutachten. Wir haben es geschafft, als Reaktion auf den unbestreitbar furchtbaren Tod eines Kindes Rasselisten mit vermeintlich gefährlichen Hunderassen zu erlassen und haben damit Tausenden von Tieren den Tod oder langes Leid beschert – ohne jegliche wissenschaftliche Evidenz, nicht einmal basierend auf einer einfachen Statistik, sondern allein aus zwar nachvollziehbarem, aber dennoch unfundiertem Aktionismus. Es sollte also problemlos möglich sein, Tierleid zu beenden, das bewiesen und untragbar ist.

Es gibt noch viel zu tun und das ist eine wichtige Feststellung: Wir sind noch lange nicht ohne Möglichkeiten, etwas gegen Haustiere mit Qualzuchtmerkmalen zu bewirken. Mir ist bewusst, wie hart einige meiner Worte klingen mögen. Ich sehe sie als provokative, aber auch sachliche Grundlage, um aufzuzeigen, dass es noch viel zu tun gibt – und dass es keine rationale Begründung dafür gibt, sich von Institutionen, Gruppierungen oder Einzelpersonen unter Druck setzen zu lassen, Qualzuchtmerkmale weiterhin zu tolerieren. Wir sind alle nicht ohne Fehler und genau deswegen können wir alle handeln, ohne eigene Schuld aufwiegen zu müssen. Wer heute nicht anerkennt, dass Qualzuchtmerkmale unvereinbar mit dem Tierwohl sind, übernimmt keine Verantwortung für das Tier, sondern nur für die eigenen Interessen. Der erste Schritt ist die bewusste Entscheidung, dass der nächste Hund einer ohne Qualzuchtmerkmale sein wird.

Die Autorin

Dr. Nora Brede ist Evolutionsbiologin und seit 2016 Geschäftsführerin der KynoLogisch GbR (www.kynologisch.net), einer Aus- und Fortbildungsstätte für Hundetrainer*innen und Hundewirt*innen. Ihre Schwerpunkte in der Lehre sind das Ausdrucks- und Aggressionsverhalten von Hunden, besonders im Kontext der Erziehung, des Trainings und des Tierwohls. Des Weiteren konzentriert sie sich auf die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse und den Stand der Forschung rund um den Hund. Wichtig ist ihr hierbei nicht zuletzt die kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Auffassungen, die das Leben unserer Hunde beeinflussen, sowie deren philosophische Grundlagen.

In den letzten Jahren hat sich Nora Brede in Zusammenarbeit mit Tiere in Not Odenwald e. V., einem der vielseitig engagiertesten Tierschutzvereine Deutschlands, intensiv mit unterschiedlichen Themenbereichen rund um die Tierpflege und die artgerechte Haltung und Betreuung von Hunden befasst. Sie arbeitet zusammen mit dem KynoLogisch-Team an der Professionalisierung der hundebezogenen Berufe.

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