Optik statt Funktion: Die genetische Sackgasse der Hundezucht. Und Lösungsansätze!

Die emeritierte Professorin für Tierzucht, Dr. Irene Sommerfeld-Stur, analysiert die Ursachen und die Folgen bisheriger Rassehundezucht, in der es vielfach weniger um Gesundheit und Fitness der Hunde geht als um eine (oft mit lebenslangem Tierleid verbundene) »Schönheit«. Als die beiden Hauptprobleme identifiziert die Autorin demnach eine nicht mehr funktionsangepasste Selektion nach rein optischen Kriterien, sowie die Zucht in kleinen geschlossenen Populationen. Lösungsansätze sieht die Wissenschaftlerin in drei Bereichen, deren wichtigster eine verbandsunabhängige Qualifikationsanforderung in Bezug auf genetisches bzw. veterinärmedizinisches Wissen an Züchter, Zuchtfunktionäre bzw. Zuchtrichter ist. Weitere Maßnahmen wären die Abkehr von einer vorwiegend auf Ausstellungserfolgen basierenden Selektion hin zu einer mehr gesundheitsorientierten Zucht und aufgrund des bei manchen Rassen bereits irreversiblen Verlustes genetischer Vielfalt letztlich eine Abkehr vom Reinrassigkeitsdogma, also eine – allerdings kontrollierte – Öffnung von Rassepopulationen, was sorgfältiger Überlegungen und Strategien bedarf, doch für viele Rassen die einzige Möglichkeit ist, aus der genetischen Sackgasse der Reinzucht mit all ihren Problemen wieder herauszukommen.

Es waren einmal zwei Spezies. Homo Sapiens oder Mensch, die eine, Canis Lupus oder Wolf, die andere. Sie lebten lange Zeit mehr oder weniger nebeneinanderher. Da sie teilweise Nahrungskonkurrenten waren, gingen sie sich eher aus dem Weg, gelegentlich wurde ein Vertreter der einen Art zum Opfer der anderen Art. Im Großen und Ganzen hatten sie wenig miteinander zu tun. Bis es eines Tages – wann genau das war, weiß man bis heute nicht genau – zu einer Annäherung kam. Genauso wenig ist es gesichert, wie es zu dieser Annäherung kam. Ob besonders tapfere Vertreter der Spezies Wolf es wagten, sich menschlichen Siedlungen zu nähern und sich an den Abfällen bedienten, ob verwaiste Wolfswelpen von menschlichen Müttern aufgezogen wurden oder ob irgendwelche anderen Verbindungen gezielt oder zufällig zustande kamen, ist bis heute Gegenstand wissenschaftlichen Diskurses.

Wie auch immer es zur Initialzündung der Domestikation kam, irgendwann war aus der Spezies Wolf die Spezies Lupus Canis Familiaris oder Hund geworden. Seither sind Menschen und Hunde nahezu untrennbare Gefährten. Sie haben sich aneinander in einer Art Koevolution weiterentwickelt – allerdings nicht nur zum gegenseitigen Nutzen. Es ist schwer einzuschätzen, wie der heutige Mensch wäre, hätte es keine Hunde gegeben, man kann aber recht gut einschätzen, wie Hunde heute wären, hätten sie sich nicht so eng an den Menschen gebunden. Denn es gibt sie noch, die Hunde, die ohne besondere menschliche Einflüsse leben und sich fortpflanzen. Sie machen sogar – vielleicht glücklicherweise – den größeren Teil der weltweiten Hundepopulation aus.

Ein nichtsdestoweniger sehr großer Teil unserer heutigen Hunde lebt in direktem Kontakt mit und unter intensiver Betreuung durch Menschen. Diese Betreuung betrifft nicht nur die tägliche Fütterung und Pflege, sie erstreckt sich auch auf die Kontrolle der Fortpflanzung. Es sind nicht mehr die Hunde, die sich entsprechend natürlichen Selektionsprinzipien ihren Paarungspartner suchen, sondern es sind die Menschen, die einerseits bestimmen, welcher Hund das Recht auf Fortpflanzung hat, und anderseits auch, welcher Rüde welche Hündin decken darf. Aus einer natürlichen Selektion, bei der in erster Linie Kriterien der Fitness für die Entscheidung zur Fortpflanzung verantwortlich waren, ist eine menschengesteuerte Selektion geworden, bei welcher der Fitness, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle zukommt. Entscheidend für eine Zuchtzulassung sind vielmehr oft rein optische Kriterien, die entweder fitnessneutral sind oder, im schlimmsten Fall, verheerende Folgen für die Gesundheit der gezüchteten Tiere haben. Die negativen Folgen für die Hunde können so ausgeprägt sein, dass das Problem seit ein paar Jahrzehnten sogar im Rahmen nationaler Tierschutzgesetze berücksichtigt wird – ohne dass dies allerdings bislang zu einer Verbesserung der Situation geführt hat, eher sogar zum Gegenteil. Denn Hunde mit sogenannten »Qualzuchtmerkmalen« haben richtig Karriere gemacht und bevölkern inzwischen nicht nur die Straßen und Wälder, sondern auch die tierärztlichen Ordinationen.

Wie konnte es soweit kommen?
Wir können davon ausgehen, dass Hunde zunächst einmal aus menschlicher Sicht Nutztiere waren. Sie halfen bei der Jagd, sie hüteten bzw. verteidigten die Herden, sie schützten Haus und Hof, sie zogen Schlitten und vieles mehr. Züchterische Eingriffe durch den Menschen beschränkten sich auf eine Bewertung eines Hundes zur Eignung für bestimmte Aufgaben. Hunde, die sich als geeignet erwiesen, wurden wahrscheinlich in erster Linie durch besondere Aufmerksamkeit durch den Menschen gefördert. Sie bekamen Futter, ein Dach über dem Kopf und wohl auch soziale Zuwendung. Hunde, die sich als untauglich erwiesen, wurden vernachlässigt oder sogar getötet. Damit ergab sich eine Art natürliche Selektion. Zur Fortpflanzung kamen vor allem Hunde mit solchen Merkmalen, die sie für ihre spezielle Verwendung besonders geeignet machten. Das konnten körperliche Merkmale sein, wie besonderer Körperbau, spezielle Farben oder Struktur des Fells, oder auch Verhaltensmerkmale wie Jagdeignung, Schutzinstinkt oder Hüteverhalten. Daraus ergaben sich im Lauf der Zeit spezialisierte Hundetypen, die für bestimmte Verwendungen besonders gut geeignet waren. Von Rassen im heutigen Sinn war damals noch keine Rede, denn im Gegensatz zu den heutigen streng geschlossenen Populationen gab es zu diesen Zeiten vermutlich noch keine wirklich geregelte oder organisierte Zucht. Teilweise geschlossene Populationen ergaben sich allenfalls durch geographische Gegebenheiten.

Um zu verstehen, wie es von diesen ursprünglichen Hundetypen zu den heutigen Rassen und damit zu dem Problem der Qualzucht kommen konnte, muss man sich ein bisschen mit den theoretischen populationsgenetischen Grundlagen beschäftigen.

Grundlagen der Populationsgenetik
Um Merkmale in einer Population durch züchterische Maßnahmen verändern zu können, müssen zwei Voraussetzungen gegeben sein:
Erstens müssen erkennbare Unterschiede in Bezug auf die betreffenden Merkmale vorliegen. Wenn alle Tiere einer Population in einem Merkmal gleich sind, ist eine Selektion nicht möglich. Aus lauter schwarzen Hunden lassen sich keine roten gezielt herauszüchten.
Zweitens müssen vorhandene Unterschiede eine genetische Grundlage haben. Unterschiede, die ausschließlich auf Umweltfakten beruhen, haben keine züchterische Relevanz. Es macht daher keinen Sinn bei Hunden, die für die Zucht vorgesehen sind, vorhandene Fehler durch kosmetische oder gar chirurgische Eingriffe zu verschleiern, denn die genetische Grundlage wird unbarmherzig an die Nachkommen weitergegeben.

In den Anfängen der Domestikation waren die Hunde wohl untereinander recht ähnlich. Sie entsprachen in Körperbau und Verhalten den Kriterien, die sich im Rahmen einer natürlichen Selektion bewährt hatten. Erst im Lauf der Zeit zeigten sich Unterschiede. Diese zunehmende Varianz beruhte auf dem Prinzip der Mutation.

Mutationen sind zufällige Veränderungen der genetischen Information. Solche Mutationen sind etwas völlig Normales und fanden auch bei den Stammvätern unserer Hunde regelmäßig statt. Unter natürlichen Selektionsbedingungen haben Mutationen aber nur dann die Chance an die nächsten Generationen weitergegeben zu werden, wenn sie den betroffenen Tieren einen Selektionsvorteil oder zumindest keinen Selektionsnachteil geboten haben. Eine Mutation, die z.B. die Fähigkeit ausdauernd zu jagen beeinträchtigt hat, hätte keine Chance zur Verbreitung in der Population gehabt.

Da die meisten Mutationen allerdings Defektvarianten der Ausgangsgene waren und damit einem rezessiven Erbgang folgten, konnten sie unter Umständen unerkannt von einer Generation an die nächste weitergegeben werden. Denn direkte Nachteile hatten die Tiere nur dann, wenn sie ein mutiertes Gen in doppelter Dosis, also im homozygoten Genotyp trugen. Tiere, die nur eine Kopie der Mutante trugen, hatten keine Nachteile und konnten so das betreffende Defektgen an die Nachkommen weitergeben.

Man geht heute davon aus, dass die meisten derjenigen Mutationen, die heutzutage die verschiedenen Rassebilder prägen, bereits mehr oder weniger lange vor der Domestikation stattgefunden haben und unerkannt in der Wolfspopulation von einer Generation an die nächste vererbt wurden.
Im Laufe der Domestikation wurden dann immer wieder einmal Tiere mit homozygotem Genotyp einer solchen Mutation geboren und wenn der Phänotyp, also das Erscheinungsbild der Mutation, unter Domestikationsverhältnissen einen Vorteil bot, dann wurde die entsprechende Mutante entweder gezielt begünstigt, oder Hunde mit dem entsprechenden Merkmal hatten zumindest keinen Selektionsnachteil.

So kann man sich z.B. vorstellen, dass Scheckungsfarben, die unter natürlichen Selektionsbedingungen einen klaren Nachteil darstellten, unter Domestikationsbedingungen entweder geduldet oder, aufgrund ihrer Ungewöhnlichkeit, sogar begünstigt wurden. Auf diese Weise kam es im Lauf der Zeit zum Auftreten und der Verbreitung immer weiterer Merkmalsvariationen. Es entstanden Hunde mit unterschiedlichster Körpergröße, Fellstruktur, Schädelform, Beinlänge, Farbe, Ohrenform, Rutenlänge etc. Und auch bei Merkmalen des Verhaltens kam es zu Spezialisierungen. Hüteverhalten, Schutzverhalten, verschiedene Formen von jagdlichem Verhalten etc. prägten Hunde, die im entsprechenden Kontext eingesetzt wurden.

Die längste Zeit waren diese Veränderungen der jeweiligen Nutzung angepasst. Denn auch wenn man davon ausgehen kann, dass die emotionale Beziehung zwischen Menschen und Hunden von Beginn an eine wichtige Rolle gespielt hat, so waren Hunde doch bis vor relativ kurzer Zeit in erster Linie Nutztiere. Sowohl Körperbau als auch Verhalten konnten sich in einer bestimmten Population nur dann über die Generationen hinweg erhalten, wenn sie zu der Verwendung der Hunde passten. »Form follows function« war das Prinzip der Selektion. Das funktionierte die längste Zeit wunderbar – bis, ja, bis die moderne Rassehundezucht zum Zug kam.

Beginn der Rassehundezucht
Die ersten organisierten Zuchtverbände gehen auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück, die eigentliche Geburtsstunde der modernen Rassehundezucht schlug aber erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg die Menschen wieder Zeit, Lust und Gelegenheit hatten, sich um Hundezucht zu kümmern. Viele Rassen waren durch die Kriege zahlenmäßig bis auf ganz wenige Tiere geschrumpft. Die Züchter der damaligen Zeit hatten es somit mit dem aus populationsgenetischer Sicht problematischen Aspekt eines genetischen Flaschenhalses zu tun. Nichtsdestoweniger gelang es in recht kurzer Zeit, die Rassepopulationen zu vergrößern und die Züchter machten sich mit Eifer daran, ihre Rassen zu verbessern.

Der Begriff »verbessern« bekommt allerdings einen bitteren Beigeschmack, wenn man sich die Konsequenzen dieser Zuchtarbeit in vielen Rassen betrachtet. Denn schon recht bald nach dem Durchstarten der modernen Rassehundezucht machten Genetiker bzw. Tierärzte darauf aufmerksam, dass es in vielen Rassen zu Veränderungen gekommen war, die die Gesundheit der Hunde mehr oder weniger massiv beeinträchtigten. Und bereits 1985 wurde als erstes einer Reihe entsprechender Gesetze der Paragraph 11b des Deutschen Tierschutzgesetzes formuliert, nach dem es verboten war »Wirbeltiere zu züchten, wenn der Züchter damit rechnen muss, dass bei der Nachzucht aufgrund vererbter Merkmale Körperteile oder Organe fehlen oder für den artgemäßen Gebrauch ungeeignet sind und dadurch Schmerzen, Leiden oder Schäden entstehen«.

Der Ansatz war gut, die Umsetzung hat bis heute nicht geklappt. Ganz im Gegenteil, der Anteil an Hunden, die mit genetisch bedingten Gesundheitsproblemen durchs Leben gehen müssen, hat sich vervielfacht. Einen großen Teil ihrer Arbeitszeit widmen Tierärzte inzwischen Krankheiten, die entweder eine direkte Folge moderner Rassestandards sind oder die durch die Anhäufung von Defektgenen in den kleinen geschlossenen Zuchtpopulationen der Rassehundezucht in jeweils bestimmten Rassen vermehrt auftreten.

Hundeausstellungen: Optik statt Funktionalität
Was war passiert? Die nicht mehr vorwiegende Haltung von Hunden für einen bestimmten Gebrauchszweck führte dazu, dass die entsprechenden Gebrauchseigenschaften nicht mehr im Vordergrund der züchterischen Selektion standen. Es waren hingegen mehr und mehr rein optische Merkmale, die dafür entscheidend waren, ob ein Hund sich fortpflanzen durfte oder nicht. Das Ausstellungswesen boomte und Ausstellungssiege wurden der primäre Ehrgeiz vieler Züchter. Die Interpretation dessen, was ein standardgerechter Hund ist, verschob sich mehr und mehr von der Funktionalität zur »Schönheit«. Schönheit liegt bekannterweise im Auge des Betrachters, aber sieht man sich die besonders begehrten Exemplare mancher Rassen an, dann fällt es schwer, das Wort »Schönheit« mit dem gleichzusetzen, was man so sieht. Aber wenn es nur um den optischen Eindruck ginge, wären die Geschmacksverwirrungen noch hinnehmbar. Das Schlimme ist, dass sich hinter dem, was manche Menschen an Hunden »schön« finden, zum Teil unermessliches Tierleid verbirgt.

So ist es nicht nur nicht niedlich, wenn ein Mops oder eine Bulldogge sich nur röchelnd fortbewegen kann. Speziell die bei den kurzköpfigen Rassen massive Verengung der Atemwege führt zu einer lebenslangen ständigen Atemnot. Das von Liebhabern der Rasse oft als »nettes Geplauder« interpretierte Röcheln ist nichts anderes als das klinische Symptom des ständigen Kampfes um genügend Sauerstoff. Und das ist nicht alles, womit diese Rassen geschlagen sind. Die Kurzköpfigkeit ist nur eines der Symptome einer systemischen Skelettmissbildung. In vielen Fällen haben die Hunde auch Missbildungen im Bereich der Wirbelsäule und ein dysplastisches Hüftgelenk. Die oft im Übermaß vorhandenen Hautfalten führen zu schmerzhaften Hautentzündungen, Gesichtsfalten können die Hornhaut der Augen reizen und zu Hornhautentzündungen führen, die unbehandelt oft Blindheit zur Folge haben.

Aber auch bei anderen Rassen ist ein »standardgerechtes« Äußeres mit verschiedensten mehr oder weniger schwerwiegenden Gesundheitsproblemen verbunden. All diese Probleme aufzulisten, würde den Rahmen dieses Artikels sprengen. Das österreichische Tierschutzgesetz (§5 Abs. 2) listet explizit eine Reihe von klinischen Symptomen auf, die sich aus fehlgeleiteten Zuchtstandards – nicht nur bei Hunden übrigens – ergeben und die somit dem Qualzuchtverbot unterliegen (https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=20003541).

Abwärtsspirale genetischer Gesundheit
Gesundheitliche Probleme beschränken sich aber nicht auf die Konsequenzen fehlgeleiteter »Schönheitszucht«. Das ­Hauptproblem der modernen Rassehundezucht ist die kleinteilige Struktur der in sich geschlossenen Rassepopulationen. In der Rassehundezucht hat die »Reinrassigkeit« einen extrem hohen Stellenwert. Paarungen mit Hunden einer anderen Rasse oder gar mit rasselosen Hunden sind verpönt und werden von manchen Zuchtverbänden sogar mit einem Verbandsausschluss geahndet. Damit verhindert man aber eine der wesentlichsten Grundlagen von Gesundheit und Fitness – die genetische Vielfalt. Es ist eine ganz einfache Regel der Populationsgenetik, dass sich die genetische Vielfalt in geschlossenen Populationen mit jeder weiteren Generation verringert. Das passiert umso schneller, je kleiner eine Population ist. Der Verlust an genetischer Vielfalt in geschlossenen Populationen ist irreversibel – d.h. Gene, die einmal verloren gegangen sind, sind weg. Es sei denn, man führt verlorene Gene durch eine Einkreuzung (aus anderen Rassen) wieder der Population zu. Einkreuzungen aber – siehe oben – sind verpönt.
Mit diesem unseligen Regelkreis hat sich die Rassehundezucht in einer Abwärtsspirale genetischer Gesundheit verfangen. Denn die geringe genetische Vielfalt wirkt sich nicht nur äußerst negativ auf die allgemeine Gesundheit und Widerstandsfähigkeit der Hunde aus, sie verhindert auch Selektionsmaßnahmen zugunsten weniger belastender Rassemerkmale.

Selektionsmöglichkeiten schwinden
Bleiben wir beim Beispiel der Kurzköpfigkeit. Nehmen wir an, die Züchter von Bulldoggen hätten die gesundheitliche Problematik dieses Merkmals realisiert und wollten zurückrudern. Selektion ist aber nur möglich, wenn es in Bezug auf das zu verändernde Merkmal Unterschiede in der Population gibt. Wenn alle Bulldoggen einer Population kurzköpfig und röchelnd durchs Leben gehen, ist eine Selektion auf längere Köpfe und weniger Atemprobleme schlichtweg nicht möglich. Hier zitiere ich eine Züchterin einer betroffenen Rasse: »Wo sollen lange Nasen denn herkommen, wenn jahrelang nur mit kurzen gezüchtet wird«. Die einzige Möglichkeit den Hunden einer solchen Population wieder zu mehr Luft zu verhelfen, wäre die Einkreuzung von Hunden ohne dieses Problem. So einfach dieser Lösungsweg grundsätzlich wäre, so schwierig ist er in der Praxis umzusetzen. Denn es ist nicht nur das Reinrassigkeitsdogma der Rassehundezucht, das solchen Plänen entgegensteht. Einkreuzungen sind keine Patentlösung und sie bergen auch Gefahren, wenn man nicht sehr überlegt an die Sache herangeht. Immerhin gibt es Beispiele für solche Ansätze, wie z.B. den Retromops, bei dem durch Einkreuzungen von Parson Russell Terriern das Problem der Kurzköpfigkeit beim Mops verbessert werden soll. Oder die Einkreuzung eines Pointers in die Dalmatinerpopulation mit dem Ziel, die bei allen Dalmatinern fehlende Variante des SCL2A9-Gens, was mit einer rasseweiten Störung des Purinstoffwechsels und einer daraus resultierenden Neigung zu Harnsteinen verbunden ist, wieder zu immigrieren.

Bedauerlicherweise finden solche Projekte üblicherweise außerhalb der großen Zuchtverbände statt. Hunde aus solchen Projekten werden – auch nach vielen Generationen, wie das bei den LUA-Dalmatinern der Fall ist – als Mischlinge angesehen.

Lassen Sie mich zusammenfassen. Die Probleme der modernen Rassehundezucht basieren im Wesentlichen auf zwei Dingen:
1) Nicht mehr funktionsangepasste Selektion nach rein optischen Kriterien.
2) Zucht in kleinen geschlossenen Populationen.

Welche – zumindest langfristigen – Lösungen gibt es?
Die erste und m.E. wichtigste Maßnahme wäre eine Verbesserung theoretischer Grundkenntnisse in allen Bereichen. Denn es kann nicht angehen, dass weder an Züchter noch an Zuchtfunktionäre bzw. Zuchtrichter verbandsunabhängige Qualifikationsanforderungen in Bezug auf genetisches bzw. veterinärmedizinisches Wissen gestellt werden. Hundezucht sollte im Rahmen der Tierzuchtgesetze, die zurzeit nur für Nutztiere gelten, geregelt werden, sodass Hundezucht nicht mehr zum Teil ein dilettantisches Freizeitvergnügen ist.

Die zweite wünschenswerte Maßnahme wäre eine Abkehr von einer vorwiegend auf Ausstellungserfolgen basierenden Selektion hin zu einer mehr gesundheitsorientierten Zucht. Bei vielen Rassen sind Gesundheitskriterien schon seit längerer Zeit – mehr oder weniger gezwungenermaßen – Teil der Selektionsvorgaben geworden. Solange aber immer noch Hunden eher wegen reiner »Schönheitsfehler« die Zuchtzulassung verweigert wird als wegen gesundheitlicher Probleme, läuft etwas falsch.
Die dritte Maßnahme wäre eine Abkehr vom Reinrassigkeitsdogma. Auch wenn die Öffnung von Rassepopulationen sicherlich keine Patentlösung ist und sorgfältiger Überlegungen und Strategien bedarf, so ist es doch für viele Rassen die einzige Möglichkeit, aus der genetischen Sackgasse der Reinzucht mit all ihren Problemen wieder herauszukommen.

Es wäre zu wünschen, dass es der Hundezucht gelingt, einen Weg zurück zu mehr physischer und genetischer Gesundheit von Rassehunden zu finden, nach Möglichkeit bevor der Jahrtausende lange, erfolgreiche Weg der Domestikation von Hunden in so wenigen Jahren zu dem unrühmlichen Ende zunehmend kranker oder behinderter Rassehunde führt.

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