Vermenschlichung: Mal aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet

Von Martina Stricker

Tagein tagaus steht die Vermenschlichung des Hundes am Pranger. Unser Verhalten, dem Hund in vielen Situationen zuzuschreiben wie ein Mensch zu denken beziehungsweise zu empfinden, steht nicht zu Unrecht in der Kritik. Doch liegen wir dabei wirklich immer falsch? Ein genauerer Blick lohnt sich!

Per Definition laut Wikipedia bedeutet Vermenschlichung (Anthropomorphismus) »das Zuschreiben menschlicher Eigenschaften gegenüber Tieren, Göttern, Naturgewalten und Ähnlichem. Die menschlichen Eigenschaften werden dabei sowohl in der Gestalt als auch im Verhalten erkannt bzw. angenommen.«

Hier liegt zwar ganz klar der Fokus auf der aktiven Rolle des Menschen, in die Gefühle und das Verhalten des Hundes menschliche Züge zu interpretieren. Laut Definition geht es aber sowohl um die Annahme als auch um das Erkennen. Während zur Annahme auch jede Fehlinterpretation zählt, bedeutet Erkennen eine Beurteilung auf Basis der Beobachtung. Aufgrund unserer langen gemeinsamen Geschichte gibt es ganz klar auch eine Anpassung des Hundes an uns Menschen, die manche Ähnlichkeit oder Übereinstimmung hervorbrachte und von der glücklicherweise beide Seiten durchaus profitieren können.

Unterschied der Spezies
Umgangssprachlich würden wir Vermenschlichung dahingehend definieren, dass der Mensch die Natur des Hundes ignoriert und ihm menschliche Züge andichtet. Auf den ersten Blick fällt uns dabei das Verwöhnen mit menschlichen Genüssen ins Auge. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die Vermenschlichung auch bei jenen, die vom Tierheimhund erwarten, dankbar zu sein, obwohl dies voraussetzen würde, dass der Vierbeiner erkennen kann, das seine Zukunft ansonsten anderweitig und damit weniger positiv verlaufen wäre. Auch die Überzeugung, der Grund für die Pöbelei des Vierbeiners sei einzig der Tatsache geschuldet, aufgrund seiner unbändigen Zuneigung zu seinem Menschen, diesen beschützen zu müssen, ist etwas zweifelhaft. Hier ist der Wunsch meist Vater des Gedankens. Wir interpretieren, was unseren eigenen Gefühlen entspricht, stellen den geliebten Hund auf das Podest unserer eigenen Werteskala.

Wie ein Mensch?
Im Allgemeinen jedoch hat die kritikwürdige Vermenschlichung mit der grundsätzlichen Sichtweise des Menschen Allgemein selten etwas zu tun. Vermenschlichung betrifft eher Bedürfnisse aufgrund kultureller Trends. Ein strassbesetztes Halsband bedeutet dem Hund im Grunde ebenso wenig wie einem Eingeborenen in Papua Neuguinea, in dessen Umfeld die Glitzersteine bislang keinerlei Bedeutung haben. Auch das dekorative Dreieckstuch lässt den Vierbeiner kaum frohlocken, manchen Menschen aber ebenso wenig.

Statussymbole
Von Kultur zu Kultur haben gewisse Dinge einen mehr oder weniger hohen Stellenwert. Aber auch das hat gänzlich wenig mit dem Menschsein an sich zu tun. In Taiwan gibt es Gebiete, in denen drei unterschiedlich große Messer den ganzen Stolz eines Mannes bedeuten. Damit holt man bei uns niemanden hinter dem Ofen hervor. Statussymbole stehen immer im Zusammenhang mit der jeweiligen Kultur, sind damit stetig im Wandel und oft nur vorübergehende Modeerscheinung in begrenztem Umfeld. Hier sollte man nur genau unterscheiden, was den Hund in irgendeiner Weise beeinträchtigt oder nicht. Das rosa eingefärbte Fell oder die vergrößerten Hoden sind meines Erachtens tierschutzrelevant. Was jedoch den Hund weder körperlich behindert noch gesundheitlich belastet, bedarf keiner Intervention. Es erfreut den Besitzer, ohne dem Hund zu schaden. Sei‘s drum.

Gängige Bilder der Vermenschlichung
Unter dem negativ bewerteten Begriff der Vermenschlichung wird in erster Linie eine ganze Bandbreite an Fehlinterpretationen des Menschen zusammengefasst. Wir sehen vor unserem geistigen Auge den Hundebesitzer, der seinem tierischen Gefährten ein Stück Torte reicht, das Herrchen, das ein auf Maß gefertigtes Wohlfühl-Hundelager erwirbt, dessen Kosten die des eigenen Bettes locker übersteigen oder Frauchen, das ihren Liebling in Haute Couture kleidet.

Stimmungsübertragung
Ohne Frage: Der Vierbeiner ist nicht voll des Glückes, weil Frauchen das Mäntelchen, passend zum eigenen Outfit, in auffälligem Animal-Print erworben hat, selbst wenn die Besitzerin geradezu entzückt ist und überzeugt kundtut, sie könne ihrem Hund die Freude über das exquisite Kleidungsstück ansehen. Sein Verhalten unterliegt eher der Stimmungsübertragung. Der Hund übernimmt von seinem Menschen die Freude über das noble Stück, ohne zu wissen, warum.

Menschliche Schwächen
Da kommt schon etwas mehr Enthusiasmus beim tierischen Begleiter auf, wenn er bei Tisch die Tortellini kosten oder beim Ausflug das Leberwurstbrot mit seinem Menschen teilen darf. Ein Eis ist für den Vierbeiner genauso ungesund wie für uns selbst. In der Natur kennt der Wolf keine Eiscreme. Noch weiß ein Hund nicht, dass diese unnatürlich kalte Leckerei überhaupt schmeckt. Wenn ich ihn also nicht probieren lasse, entbehrt er nichts und lebt gesünder. Da gerade der Zucker verheerende Folgen haben kann, sollten wir unseren Vierbeiner einfach nicht erst auf den Geschmack bringen. Tatsache ist, dass wir immer von schlechtem Gewissen geplagt werden, wenn wir uns eigenes Fehlverhalten zugestehen, anderen gegenüber jedoch das Für und Wider erst abwägen. Das ist sicher ein Dilemma, hat jedoch nichts mit der Frage des Menschseins zu tun, selbst wenn sich in unserer Sprache wieder beschönigende Begriffe und Redewendungen wie »menschliche Schwächen« oder »irren ist menschlich« finden.

Offensichtliche Annäherung
Obwohl ein intensiver Augenkontakt in der hundlichen Kommunikation eher als Drohung empfunden wird, erkennen unsere Fellnasen nach dem Einzug bei uns doch meist recht schnell, wenn unser direkter Blick eher liebevoller Natur ist. Doch hat die Annäherung der Caniden an uns noch tiefere Auswirkungen. Hunde sind nicht nur imstande, unser Verhalten in vielen Fällen sehr treffend zu deuten, sondern beginnen mehr und mehr uns auch zu imitieren. Wenn sich mein eigener Rüde Eli ungemein über körperliche Zuwendung freut, kann es passieren, dass er mit eng angelegten Ohren alle Zähne zu einer Art »Lachen« entblößt und sich Hinterteil wedelnd herandrückt. Auch wenn die sichtbaren Zähne etwas komisch aussehen und bei den mitgelieferten Lauten für einen Fremden dann doch etwas bedrohlich wirken können, steht ganz außer Frage, dass der Hund versucht zu lachen, also seine Freude auf menschliche Weise zum Ausdruck zu bringen.

Messbare Anpassung
Das Zusammenleben und Zusammenarbeiten der letzten ca. 15.000 Jahre hat Mensch und Hund dermaßen zusammengeschweißt, dass bei innigem Blickkontakt tatsächlich auf beiden Seiten das sogenannte Bindungshormon Oxytocin ausgeschüttet wird, was beim uns genetisch näheren Menschenaffen nicht der Fall ist. Insofern hat diese fortschreitende evolutionäre Entwicklung durchaus einschneidende Veränderungen ausgelöst.

Fazit
Vermenschlichung im Sinne von Annehmen, aber auch Erkennen menschlicher Züge bei unseren tierischen Gefährten, hat viele Gesichter und ist nicht grundsätzlich eine Fehlinterpretation. Vor kritikwürdiger Vermenschlichung kann uns nur unser gesunder Menschenverstand bewahren. Da Hunde in der Gegenwart verankert sind, sich keine Gedanken darüber machen können, wie eine Situation anders hätte verlaufen können oder sich in Zukunft gestalten könnte, sind dahingehende Interpretationen eher Unterstellungen. Die angebliche Freude an modischen Trends sind es definitiv, denn es ist ausgeschlossen, dass ein Hund sein eigenes Aussehen beurteilt. Alles, was Gesundheit oder Beweglichkeit des Hundes beeinträchtigen könnte, ist eindeutig tierschutzrelevant. Dass es aber nachweislich eine fortschreitende Anpassung des Hundes an uns Menschen aufgrund unserer historischen Sozialgemeinschaft gibt, ist eine unumstößliche Tatsache und bestätigt ein weiteres Mal, dass der Hund das Zeug hat, tatsächlich unser bester Freund zu sein.

 

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